Matthew Kirschenbaum stellt in dieser eher akademischen Abhandlung die Geschichte der Textverarbeitung in ihren formativen Jahren von den 1960ern bis in die 1980er dar. Er betrachtet die Auswirkungen der technischen Entwicklung von der Schreibmaschine zum Textprozessor auf ihre Anwender, und das sind eben nicht nur die einsam in ihrem Studierzimmer sitzenden Autoren, sondern auch die Sekretärinnen der Chefs und die persönlichen Assistent:innen der Schriftsteller.
Was bedeutet es, neben dem Zehnfinger-System sich nun in Monstrositäten wie MT/ST einzuarbeiten? MT/ST steht für eine der ersten Speicher-Schreibmaschinen, ein IBM-Hybrid aus Magnetic Tape und Selectric Typewriter. Ein Kapitel ist quasi der „Herstellung“ des Romans Bomber gewidmet, der Arbeitsgemeinschaft aus Autor Len Deighton und Schreibmaschinistin Ellenor Handley, die sich Think Tape statt TippEx erschließen musste, um Änderungen und Korrekturen an dem auf Magnetband gespeicherten Text vornehmen zu können.
Nein, MT/ST hatte keinen Bildschirm, auf dem man den Text editieren konnte. Man startete an der MT/ST den Ausdruck des gespeicherten Dokuments bis zu der Stelle, an der man Änderungen vornehmen wollte, stoppte sie dort, korrigierte, ergänzte, und diese Ergänzungen schrieb die Maschine dann auf das Band zurück. Wobei eine MT/ST mit zwei Bandlaufwerken schon das konnte, was wir heute als Serienbrief-Funktion kennen: Lücken (bzw. Steuerzeichen) im Text von Band 1 durch einen Datensatz von Band 2 ergänzen.
Was bedeutet es für die Kuratoren von Museen und Sammlungen, von einem Schriftsteller statt eines Stapels Notizbücher oder mehrerer Kartons mit Typeskripten und handschriftlichen Korrekturen nun einen PC oder einen Stapel Disketten in die Hand gedrückt zu bekommen? Wie rekonstruiert man die Entstehung eines Romans anhand einer Festplatte? Buddenbrooks-final-2-revised-endgueltige-fassung-final-3.docx, jemand?
Wie jedes gutes Buch spannt auch dieses ein Spinnennetz an Verweisen auf:
In die Pionier-Jahre der Personal Computer, die hier inzwischen legendären Systeme Apple ][ und den Osborne 1, der mit seiner kompakten Gestalt und im Preis enthaltener Software-Bibliothek ein überzeugendes Angebot für Erstkäufer war.
Über die ersten Versuche interkontinentaler Co-Autorenschaft mittels Datenübertragung per Modem, über die Cut&Paste-Techniken, die William Gibson und Bruce Sterling für The Difference Engine anwandten.
Über die künstlerischen Freiheiten, die Schriftsteller hinzugewonnen haben, indem sie nicht mehr nur Lieferanten von Rohtext sind, sondern selbst zum Schriftsetzer, Layouter werden oder gar ein eigenes Schriftsystem für ihr Werk entwerfen, wie Kamau Brathwaite.
Aber daneben ist dieses Buch wertvoll als wissenschaftliche Dokumentation des status quo ante, bevor wir alles, was wir bisher erschufen, in den Fleischwolf Generative KI stopften und glaubten, uns ab jetzt unseren eigenen Roman aus zwei oder drei prompts generieren zu können.
Legacy-Textverarbeitung
Natürlich stürzt so ein Buch einen Teilzeit-Retroman(t)iker wie mich in ein rabbit hole, in dem sich die alten Textverarbeitungen verstecken gegenseitig Tee servieren. Meine erste war wohl StarWriter 7 für DOS, ein Urahn des heutigen LibreOffice. Dann StarOffice (über OpenOffice zu LibreOffice) auf OS/2. Dann eine Zeitlang gar nichts, weil alles zu Schreibende beruflicher Natur war und dort Microsoft Word gesetzt ist. Bis ich heute eigentlich reflexhaft zu iA Writer greife, wenn ich Buchstaben aneinanderreihen will. Auch / eben weil es der Feature-Flut der ausgewachsenen Office Suites ein Minimum an Funktion entgegensetzt, und damit Ablenkungen vermeiden hilft.
Verpasst habe ich, auf Grund meiner (hüstel) Jugend WordStar, dessen Geschichte ein für Software-Entwickler oder Product Owner interessantes Detail enthält: Nachdem es jahrelang keine Updates für Version 3.3 gab, weil der Hauptentwickler sich herausgezogen hatte und die Codebasis vermutlich am Ende der Wartbarkeit angekommen war, plus eine Neuentwicklung unter dem Namen WordStar 2000 gefloppt hatte, erschien als Version 4 … der WordStar-Clon NewStar. NewStar wiederum war Jahre vorher von frustrierten WordStar-Entwicklern gegründet worden und hatte eine komplett kompatible Neufassung von WordStar aufgelegt, die das Bedienkonzept und das Dateiformat beibehielt, aber die Fehler und Unzulänglichkeiten, die im Laufe der Jahre deutlich geworden waren, ausbesserte. Dieser Klon kehrte „nach Hause“ zurück und ermöglichte WordStar das Überleben bis Word und Windows aller Konkurrenz den Garaus machten.
WordStar 7, die letzte für DOS erschienene Version, lässt sich heute in einer DOSBOX verwenden, zu finden hier: https://sfwriter.com/ws7.htm
Von WordStar gab es vor zwei Jahren eine kurz gehypte Neuauflage namens WordTsar. Und was von WordStar bleiben wird, solange wir Texte über Tastaturen eingeben, sind die Tastenkürzel wie der legendäre Diamand und die Befehle zur Manipulation (Cut, Copy, Paste) von Textblöcken. Sehr schön und ausführlich erklärt in AN INTERFACE DESIGNED FOR TOUCH TYPISTS
Und auch WordPerfect, das WordStar vom Thron stürzte, über dessen erste Jahre W E Pete Peterson aus erster Hand in Almost Perfect berichtet, habe ich verpasst. WordPerfect 5.1 für DOS war für eine Zeit der Gold-Standard.
Es war Anfang der 1990er, als alle großen Software-Häuser (ja, damals gab es mehr als Microsoft) plötzlich merkten, dass Microsoft sich mit Office anschickte, ihnen breakfast, lunch and dinner wegzufuttern, auch eine Office Suite brauchten. WordPerfect und Borland schmissen ihre Produkte zusammen, was sich diverse Übernahmen später (Novell kaufte WordPerfect) dann bei Corel als WordPerfect Office wiederfand. Davon habe ich mir spaßeshalber die Version 7 von circa 1996 gekauft, um mir das mal endlich persönlich anzuschauen. Eine aktuelle Professional-Version kostet auf wordperfect.com rund 400 USD. Wäre mal interessant zu erfahren, wie viele Leute an
Die dritte der damals entstandenen Office Suites, die Lotus SmartSuite hatte als Textverarbeitung AmiPro bzw. den Rewrite WordPro dabei, mit dem ich mich aber höchstens mal am Rande auseinandergesetzt habe. Die letzte Version der SmartSuite gibt es wohl auch zum freien Download in diesem Internet.